Inklusion ja – aber wie?

 

Von Ulrike Seitz und Markus Wurster

(Veröffentlicht in "bildung & wissenschaft - GEW-BW, Heft Mai 2010) 

 

An der Grundschule Steinbach in Schwäbisch Hall entstand bereits vor 15 Jahren neben dem bestehenden klassischen Zug ein Montessori-Zug, in dem jahrgangsübergreifend und inklusiv gearbeitet wird. In jeder Gruppe lernen Kinder mehrerer Jahrgangsstufen und Kinder mit und ohne Beeinträchtig/Behinderung gemeinsam. Ein Projekt, altersgemischt und inklusiv – wie kann das funktionieren?

 

Freie Arbeit

Möglich ist das bei uns vor allem durch das Konzept der Freien Arbeit. Der Unterricht kann und soll nicht für jedes Kind durchgeplant sein. Die Kinder finden eine vorbereitete Umgebung vor, die auf ihre Interessen und Lernbedürfnisse ausgerichtet ist. Innerhalb dieses pädagogischen Rahmens bestimmen die Kinder selbst darüber, mit welchem Material und zu welchen Themen, zu welcher Zeit, wie lange und in welcher Form (allein oder mit Partnern) sie arbeiten wollen. Die LehrerInnen führen in neue Bereiche und Materialien ein, begleiten die Kinder auf ihrem Lernweg, beraten und unterstützen sie. Es gibt Kinder, die diese Freiheiten produktiv ausschöpfen können, und andere, die enger begleitet werden müssen. „Freiheit und Bindung“ sind die beiden Pole, zwischen denen die Freie Arbeit stattfindet und in deren Rahmen sehr unterschiedliche Lernwege der Kinder zutage kommen. Für uns LehrerInnen ist es Anstrengung und Freude zugleich, die Individualität zu erleben. Wir können Kinder beobachten, die sich konzentriert in ein Thema versenken, und wir entwickeln eine Gelassenheit und eine Wertschätzung für Phasen, in denen die Kommunikation der Kinder untereinander größeren Raum beansprucht.

 

Altersmischung

Nicht nur die LehrerInnen, auch die Kinder beraten und unterstützen sich gegenseitig. Die Altersmischung erleichtert dies, denn es gibt Große und Kleine, eine Art „Familienklasse“. Wie in der Familie mit mehreren Kindern, lernen die Kinder miteinander und voneinander. In jedem Schuljahr kommen je nach Klassengröße fünf bis acht neue Erstklässler in die Gruppe. Sie werden von „Paten“ aufgenommen, die sie erstaunlich rasch in den Schulalltag einführen. Die Großen fühlen sich in ihrem Selbstwert gestärkt, weil sie die jüngeren Kinder unterstützen können.

 

Inklusion

Der Begriff „Inklusion“ beschreibt einen Sachverhalt, der über das Konzept einer „Integration“ hinausgeht. Wir finden in unseren Lerngruppen eine große Bandbreite von Begabungen, Fähigkeiten und Persönlichkeiten vor – Individuen mit je eigenen Stärken und eigenen Bedürfnissen. Die Wertschätzung der Diversität ermöglicht überraschende Begegnungen: Das hochbegabte Kind mit geringer sozialer Kompetenz und das Kind mit Förderbedarf, das gerade im sozialen Bereich seine Stärken besitzt, kommen sich näher.

Das charmante Mädchen mit Down-Syndrom, das die pädagogischen Fähigkeiten größerer Mädchen herausfordert, imitiert zunächst die konzentrierte Arbeitshaltung der Großen und übernimmt sie schließlich. Dann hat nicht nur das zunächst als „bedürftig“ angesehene Kind von der Situation profitiert, sondern auch die Mädchen, die lernen, wie sie erfolgreich mit dem Down-Syndrom-Kind umgehen.

 

Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf

Wir haben in einer Gruppe von 24 Kindern vier Plätze für Kinder mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“ vorgesehen. Die entsprechenden Gutachten können im Sinne der Förderschule, der Sprachheilschule, der Schule für Erziehungshilfe, einer Schule für Sinnesbeeinträchtigungen oder der Schule für Kinder mit geistiger Behinderung formuliert sein. Es liegt auf der Hand, dass diese Kinder oft deutlich mehr Hilfe und Begleitung brauchen. Wie lässt sich dies organisieren?

Als entscheidend erwies sich für uns die Zusammenarbeit mit den örtlichen Sonderschulen und dem Staatlichen Schulamt. Durch die beachtliche Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Gutachten werden uns Lehrerstunden aus dem Sonderschulbereich übertragen. Jede Klasse profitiert davon und kann wenigstens stundenweise doppelt besetzt arbeiten. In größerem Umfang ist dies bei Kindern mit geistiger Behinderung nötig und möglich. Sie bringen bis zu fünf Stunden der zuständigen Schule mit.

Auf diese Weise verändert sich das Klassenlehrerprinzip hin zu einem Team-Konzept für die ganze Gruppe. Das Kind mit besonderem Förderbedarf braucht nicht ständig die exklusive Begleitung des Erwachsenen. Deshalb hat die Sonderschullehrerin zwar „ihr“ Kind besonders im Blick, arbeitet aber ebenso auch im Rahmen der Freien Arbeit situationsbezogen in der Gruppe. Und wenn z. B. das geistig behinderte Kind Übungen zur phonologischen Bewusstheit macht, kann ein anderes Kind, das hier Bedarf hat, einbezogen werden.

Vorteilhaft ist, dass alle Lehrerinnen und Lehrer eine Montessori-Zusatzausbildung besitzen. Die Mitarbeiter müssen die Struktur und die Absprachen innerhalb der Klasse kennen und mittragen und nehmen an den regelmäßigen Teamsitzungen teil.

Einzelne Kinder benötigen eine durchgehende Begleitung durch pädagogische oder versorgende MitarbeiterInnen, z. B. Kinder mit körperlicher Einschränkung, autistische Kinder, Kinder mit Asperger Syndrom oder Kinder mit Down-Syndrom. Zum Teil werden diese Kräfte über die Regelungen der „Eingliederungshilfe“ der Schule zur Verfügung gestellt.

 

Gestaltung der sozialen Umgebung

Bei den Gesprächen im Klassenrat, der einmal pro Woche stattfindet, werden Konflikte innerhalb der Klasse besprochen und Lösungen von Problemen gesucht. Die vorsitzenden SchülerInnen wirken als Mediatoren und lernen Konflikte zu klären. Jedes Kind wird ernst genommen und jedes Kind muss Verantwortung tragen für sein Verhalten. Auch ein behindertes Kind wird ernsthaft ermahnt, wenn es Klagen wegen negativen Verhaltens gibt. Einem Kind, das nicht so leicht Zusammenhänge versteht, muss der Leiter des Klassenrats in einfachen Worten und behutsam begegnen – und lernt so viel empathisches Verhalten.

Die Präsentation von Arbeiten mit entsprechender Würdigung ist zum Ritual gewachsen. Zuhören, bestätigen, kritisieren – unter dem Mandat der Wertschätzung fördert es Einfühlungsvermögen in individuelle Leistungsmöglichkeiten.

Zur Vorbereitung eines Festes gehören die verschiedensten Begabungen. Vielleicht zeigt sich ganz unerwartet ein Junge als hervorragender Schreiner beim Kulissenbau oder ein Mädchen als kreative Tänzerin oder Sängerin. Es liegt an uns, den Begabungen der Kinder zur Verwirklichung zu verhelfen.

An den Natur- und Kulturbegegnungen, die die Kinder regelmäßig aus dem Schulhaus herausführen, nehmen stets alle Kinder der Klasse teil. Bei diesen außerschulischen Unternehmungen sind allerlei Fähigkeiten gefragt: Schutzbedürftige Kinder werden von großen Kindern an die Hand genommen. Der Junge im Rollstuhl wird zwar von einem Zivi begleitet, verschiedene Kinder unterstützen diesen jedoch tatkräftig. Die Kinder sind es gewohnt sich umeinander zu kümmern. Der gemeinsame Besuch einer Ausstellung oder die Erkundung der Natur in den Jahreszeiten werden zu einem Erlebnis, bei dem jedes Kind seine individuellen Erfahrungen sammeln kann und bei dem die Gemeinschaft gepflegt und positiv erlebt wird.

 

Lernen in kleinen Gruppen

Manche Einführungen oder unterrichtliche Themen sind in kleinen Gruppen angemessener und effektiver durchzuführen als im gesamten Klassenverband oder in der Einzelarbeit. Durch das Konzept der Freien Arbeit gibt es dafür Freiräume. Besonders wichtig dafür ist auch das Teamprinzip der Lehrkräfte. Solche Gruppen können nach Interessen und nach Entwicklungsniveaus gebildet werden. Einige KollegInnen organisieren ihren Stundenplan auch so, dass bestimmte Lerninhalte in festen Jahrgangsgruppen erarbeitet werden. Hier findet z. B. Englisch für Dritt- oder Viertklässler in einer Randstunde statt, in der die jüngeren Kinder keinen Unterricht haben.

Und einmal in der Woche treffen sich zudem mehrere Gutachtenkinder aus verschiedenen Klassen und eine Sonderschullehrerin zu besonderen Wahrnehmungsübungen. Eine bemerkenswerte Beobachtung bei diesen Stunden ist, dass die Kinder es genießen zwischendurch mit „ähnlichen“ Kindern zusammen zu sein.

 

Grenzerfahrungen

Es benötigt ein Netzwerk von Pädagogen, pädagogischen Mitarbeitern und engagierten Eltern, damit Inklusion gelingen kann. Das Ausmaß der Betreuung, die nötigen Stunden wie auch die Finanzierung von zusätzlichem Material müssen dem Bedarf entsprechen, damit das System funktioniert. Aber in unserer Schulwirklichkeit bietet ein einmal erreichter Status Quo nicht die Gewähr für eine gesicherte Zukunft. Auch unsere Schule wurde in den vergangenen Jahren mit personellen Einsparungen und Kürzungen konfrontiert, die das Gesamtkonzept immer wieder an eine empfindliche Grenze führten.

Durch unser Aufnahmeverfahren sorgen wir für eine „natürliche“ Mischung verschiedener Kinder. Auch für viele „spezielle“ Kinder können wir einen angemessenen Rahmen bieten. Trotzdem machen wir die Erfahrung, dass für manche Kinder die Komplexität der sozialen Ereignisse in einer Klasse zu hoch ist. Deutlich kleinere Gruppen, d. h. Kleinklassen wären für sie sinnvoller. Notwendige bauliche Veränderungen im Schulhaus sind kostspielig und fallen oft dem Rotstift zum Opfer, so wie z. B. ein Aufzug bis in den dritten Stock vorläufig ein Traum bleiben wird.

Inklusion darf keine Sparmaßnahme sein. Wenn sie gelingt, ermöglicht sie eine veränderte Sicht auf eine Gesellschaft, die ihre Unterschiede akzeptiert.