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Ich kann etwas, und ich kann es gut! Die Erfahrung des Könnens ist das Fundament für Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Wenn wir Kindern und Jugendlichen bei der Aufgabe, ihre Person in der Gemeinschaft zur Entfaltung zu bringen, ernsthaft beistehen wollen, müssen wir ihnen ermöglichen, in herausfordernden Lernsituationen Kompetenz und Festigkeit statt bloßes Halbwissen und Unsicherheit aufzubauen.
Wir stehen heute vor der Aufgabe, gemeinsam am Aufbau einer Ermutigungskultur, die auch einen neuen Umgang mit dem Fehler erfordert, zu erarbeiten. Die Montessori-Pädagogik leistet dazu einen wesentlichen Beitrag.

Den folgenden Festvortrag hielt Prof. Mag. Dr. Franz Hammerer anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Montessori-Iinitiative Schwäbisch Hall e.V. am 20. Oktober 2001. Für unser pädagogische Selbstverständnis in der Arbeit mit Kindern kommt den Ausführungen Hammerers programmatische Bedeutung zu. Mit dessen freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir deshalb das Manuskript. Der Beitrag ist außerdem in leicht veränderter Fassung unter dem Titel "Montessori-Pädagogik – ein Weg zu Selbständigkeit und Kompetenz" erschienen in: Erziehung und Unterricht, 152. Jg., H. 3-4/2002, S. 302-314.

 

"Meister seiner selbst" und "Herr einer Kultur" –
Montessoris Beitrag zur Grundlegung der Bildung

von Franz Hammerer

 

Liebe Mitglieder der Montessori-Initiative Schwäbisch Hall,
werte Festgäste!

Ich freue mich über die Einladung, bei diesem schönen Anlass, dem 10jährigen Bestehen der Montessori-Initiative Schwäbisch Hall, dabei sein zu können.

Wenn man die umfangreiche Festschrift liest und die Montessori-Einrichtungen besichtigt, wird deutlich, mit welch hohem Engagement hier in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gremien in den zehn Jahren daran gearbeitet wurde, Kinder auf dem Weg „Meister ihrer selbst" zu werden und die für das Leben in unserer Gesellschaft notwendigen Kompetenzen zu erwerben, zu unterstützen.

1. Grundlegung der Bildung – Anforderungen und Hindernisse

Die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit stellt das zentrale Ziel der Montessori-Pädagogik dar. Maria Montessori umschreibt diesen Prozess auch mit „Meister seiner selbst" (Montessori 1988, S. 23) werden. Was Montessori hier als vorrangiges Erziehungsziel formuliert, findet man mit ähnlichen Worten bei Hartmut von Hentig beschrieben. Er fordert: Die Schule muss den „Menschen stärken und die Sachen klären" (Hentig 1996, S. 57).

Den Menschen stärken bedeutet, dem jungen Menschen zu helfen, dass er ein hinreichend festes Selbstwertgefühl, Selbständigkeit im Denken, Urteilen und Handeln, Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten und somit Lebenszuversicht entwickeln kann. Diese Stärkung der Person ist im schulischen Bildungsprozess verbunden mit dem Aufbau von Kompetenzen, mit der aktiven und intensiven Auseinandersetzung mit den Kulturgütern, mit der dem Kind gemäßen Aneignung bzw. Erschließung von Welt. Es geht also, wie es FaustSiehl/Garlichs/Ramseger/Schwarz/Warm formulieren, um das „Heimischwerden in der eigenen Kultur" (Faust-Siehl u.a. 1996, S. 14), wozu natürlich auch die Entwicklung von Gemeinsinn und das Fördern und Ausbilden von Offenheit für andere Kulturen gehören.

Die Schule, insbesondere die Grundschule, ist eine gesellschaftliche Basisinstitution, in der neben Familie und Kindergarten Grund d. h. das Fundament für Vieles gelegt wird. Grundlegung heißt Grundeinstellungen zu sich selbst und zur Welt gewinnen, aber auch Grundkenntnisse.

In der Schule wird mitbestimmt, ob wir, wie Hermann Schwarz meint, „später in Privatleben, Beruf und Gesellschaft eher unsichere und inaktive oder sich selbst etwas zutrauende und zupackende Menschen sind" (Schwarz 1998, S. 9).

Montessori betrachtet die Auswirkungen der Erziehung kritisch und meint: „Es gibt zu viele Menschen, die sich mit Krücken aufrecht erhalten." (Montessori 1989, S. 191) Das sind Menschen, die wenig Selbstwertgefühl aufbauen konnten, die nicht gelernt haben, selbständig und selbstverantwortlich zu handeln. Diese Krücken sind ihnen häufig durch eine Erziehung verliehen worden, die zu Minderwertigkeitskomplexen und einer Herabsetzung menschlicher Kräfte führt (wenn man z. B. zu Hause klein gehalten, wenn einem wenig zugetraut wurde, oder wenn man in der Schule bei einem Fehler, einer falschen Antwort regelmäßig als Dummkopf hingestellt oder bloßgestellt und entmutigt wurde). Unsicherheit bzw. Krücken hinterlässt auch ein Unterricht, der nicht auf wirkliche Kompetenz und Einwurzelung ausgerichtet ist, sondern auf das bloße Durchnehmen von Stoff im Stundentakt. Aus einem solchen Unterricht erwachsen Menschen, die sich mit Halb- bzw. Brockenwissen im Leben unsicher bewegen.

Es gibt mehr Menschen als wir meinen, die unter mangelndem Selbstwertgefühl leiden und sich danach sehnen, ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln. So zeigt sich etwa in der Arbeit mit arbeitslosen Erwachsenen deutlich, dass es vielen an Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen fehlt, sodass sie sich klein und ohnmächtig fühlen. Nicht selten liegen Ursachen dafür in der Kindheit, sodass John Bradshaw zurecht beklagt: „Der Niedergang eines jeden Mannes und einer jeden Frau handelt davon, dass ein wunderbares, wertvolles, besonderes und kostbares Kind sein Gefühl für das ‚ich bin, wer ich bin’ verloren hat." (Bradshaw zit. n. Grün 1995, S. 20)

Selbstwertgefühl ist das Wissen um den eigenen Wert, um die eigene Würde, um die Einmaligkeit der Person. Es ist das Gespür für mein Selbst, für mein wahres Wesen. Montessori fordert, dass wir diesem Wesen des Kindes, dem Leben, zum Durchbruch bzw. zum Durchtönen verhelfen. (Vgl. Montessori 1992, S. 135) Zu einer Persönlichkeit werden wir in diesem Sinne dadurch, dass wir von unseren Möglichkeiten möglichst viel zum Durchscheinen bringen. Viele Schulen stellen einen Lebens- und Erfahrungsraum dar, in dem sich Kinder und Jugendliche entfalten können. Schule kann aber auch die Entfaltung von Potenzialitäten behindern, ja Kinder brechen. Manche schaffen es in einem stärkenden Umfeld, sich trotz Bloßstellungen oder anderen Demütigungen, denen sie bei einzelnen Lehrpersonen ausgesetzt sind, sich nicht kleinkriegen zu lassen. So wird etwa von Heinz von Förster erzählt, sein Lehrer habe, als er um 1917 in Wien die Schule besuchte, in der Klasse, in der vorne die „guten" und hinten die „schlechten" Schüler saßen, zu ihm gesagt: „Das Klassenzimmer ist viel zu kurz, um dich richtig zu setzen." Darauf soll der kleine Bub geantwortet haben: „Das ist nicht mein Problem, sondern das des Architekten."

Er hatte das Glück, im Aufbau seines Selbstbewusstseins offensichtlich nicht von diesem Lehrer abhängig gewesen zu sein.

2. Der Umgang mit dem Fehler als pädagogische Schlüsselsituation

Beim Aufbau von Selbstvertrauen spielt der Umgang mit Fehlern eine zentrale Rolle. Ich halte die Fehlersituation für eine pädagogische Schlüsselsituation, denn in der Fehlersituation entscheidet sich, ob der/die Lernende erhobenen Hauptes, also als Person gestärkt und in der Sache geklärt, herauskommt oder nicht. Wo Menschen lernen, passieren Fehler. Wer Neuland betritt, macht Fehler, muss Fehler machen dürfen, denn sie sind Durchgangsstadium in vielen erfolgreichen Lernprozessen, ein Engpass, auf den neue Weite folgen kann. (Vgl. Kahl 1995) Montessori meint, wir sollten „dem Fehler gegenüber ein freundschaftliches Verhalten an den Tag legen und ihn als einen Gefährten betrachten, der mit uns lebt und einen Sinn hat" (Montessori 1989, S. 222).

In der Schule besteht die Tendenz, den Fehler zu verfolgen. Man hält den Fehler dem Kind als Defizit vor, anstatt ihn als mögliche Energiequelle für den Selbstaufbau und die Selbstkorrektur zu betrachten und zu nutzen. Irrtümer und Fehler sind häufig Annäherungsversuche an die Gesetzmäßigkeit einer Sache. Wer jedoch Angst vor dem Fehler hat bzw. haben muss, geht kein Risiko ein, lässt sich nicht auf Neues ein. Wer Angst vor dem Fehler hat, kann der Sache gerade deshalb nicht gerecht werden, weil er nicht mehr spürt, was fehlt. Montessori berichtet aus ihrer Zeit von Eselsohren, die Kindern aufgesetzt wurden, wenn sie Fehler machten. „Und wenn sie das ganze Papier der Welt verwendet hätten, um Eselsohren zu machen, sie hätten nichts korrigiert." (Montessori 1989, S. 221)

2.1 Die Fehlersituation als Lernchance

In einer ersten Klasse werden Additionen im Zahlenraum Zehn geübt. Dabei stellt die Lehrerin Aufgaben und die Schüler/innen antworten. „Wie viel ist 3 plus 4?" Einige Kinder zeigen auf. Eines wird aufgerufen und sagt mit großem Ernst: „3 plus 4 gleich 8." Die Lehrerin verzieht etwas ihr Gesicht und sagt. „Nein, das stimmt nicht ganz. Denk noch einmal nach." Schon nach zwei, drei Sekunden fährt sie fort. „Wer kann ihm helfen?" „Ich!" „Ich!" „Ich!" Mehrere Kinder strecken der Lehrerin beide Arme und Hände entgegen. Eine Schülerin wird aufgerufen. „3 plus 4 gleich 7", lautet ihre Antwort, wofür sie mit einem „Brav!" gelobt wird. Dann fährt die Lehrerin mit der nächsten Aufgabe fort.

Ist dem Kind, das zum Ergebnis „8" gekommen ist, im Lernprozess geholfen? Nein, im Gegenteil, es ist in seinem Nichtwissen bestätigt worden und fühlt sich unter Umständen als Dummkopf, dem andere die richtige Antwort sagen müssen. Hier besteht zudem die Gefahr, dass das Klassenklima zunehmend von der Haltung „Dein Fehler – meine Chance" geprägt wird. Wenn Lernsituationen zum Konkurrenzkampf verkommen, werden Fehler der anderen ausgeschlachtet, man sucht den Erfolg dort, wo der andere versagt, präsentiert sich auf des Basis der Niederlage eines anderen. Auf diesem Hintergrund kann sich weder echtes Selbstwertgefühl entfalten noch Gemeinschaft gedeihen. (Vgl. Hammerer 2001, S. 39f)

Eine Fehlersituation wird dann zu einer fruchtbaren Situation im Bildungsprozess, wenn das Kind erhobenen Hauptes, also in der Sache geklärt und als Person gestärkt aus der Situation herauskommt. Eine Sache klärt sich nicht durch das Hören der (vermeintlich) richtigen Lösung: „Man muss die Quelle des Irrtums aufdecken, sonst nützt uns das Hören der Wahrheit nichts." (Wittgenstein, zit. n. Spychiger et. al. 1999, S. 44)

Das könnte in unserem Fall bedeuten, dass die Lehrerin dem Kind tatsächlich Zeit zum nochmaligen Nachdenken, zum Nachvollzug seines Lösungsweges (Wie bist du zu diesem Ergebnis gekommen?) gibt bzw. ihm Anhaltspunkte bietet, die das Wissen aktivieren und eine Brücke zum richtigen Ergebnis schlagen. Vielleicht empfiehlt sie dem Kind die Aufgabe mit dem in der Klasse verwendeten Mathematikmaterial zu legen. Kommt das Kind nun zum richtigen Ergebnis, präsentiert es dieses, stellt eventuell den Lösungsweg vor und bekommt Anerkennung. Somit wird der Fehler nicht nur als solcher erkannt, sondern als Lernanlass genutzt und die Lernsituation auch in emotionaler Hinsicht positiv abgeschlossen.

2.2 Aufbau einer Fehlerkultur

Das Richtigstellen, Verbessern, Überarbeiten von Aufgaben sind wichtige Teile jedes erfolgreichen Lerngeschehens. Selbstverantwortetes Lernen schließt die Kontrolle und Überarbeitung ein, denn ein Arbeitsprozess ist erst dann abgeschlossen und kann zu einem Könnenserlebnis werden, wenn auch die Kontrolle, Korrektur und Überarbeitung stattgefunden haben. Übernehmen wir als Lehrer/innen die Kontrolle der Arbeit, so nehmen wird dem Kind einen zentralen Teil des Arbeitsprozesses aus der Hand. Dies fördert die Gleichgültigkeit dem Fehler gegenüber, denn die Kinder „delegieren die Verantwortung für die von ihnen erstellten Produkte an die Lehrer/innen, die ihrerseits hoffen, dass ihre Anstreichungen und Korrekturen Früchte tragen" (Petersen 1996, S. 39). Wenn die Kontrolle und Überarbeitung selbstverständliche Bestandteile in Rahmen der Bewältigung einer Aufgabe sind, verändert dies die Haltung dem Fehler gegenüber – es erhöht sich die Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit. Montessori hat die meisten ihrer Materialien und Aufgaben so konstruiert, dass die Fehlerkontrolle dem Lernenden über das Material möglich ist. Damit wird dem Fehler viel an Dramatik genommen, „er wird zu einem Gefährten, der mit uns lebt und einen Sinn hat" (Montessori 1989, S. 222).

Fehler und ihre erlebte Überwindung durch das Entdecken des Richtigen, Besseren, Angemesseneren sind nach Weinert „subjektiv erlebte Indikatoren des individuellen Lernfortschritts: Der Lernende nimmt sich selbst als Ursache eines vertieften Verstehens, einer verbesserten Einsicht, seines souveräneren Könnens all den positiven motivationalen Folgen – wahr" (Weinert 1999, S. 105). Wer die eigenen Fehler erkennen und korrigieren kann, hat ein hohes Maß an Selbständigkeit, Unabhängigkeit und innerer Sicherheit gewonnen.

2.3 Selbständigkeit und Unabhängigkeit durch Anerkennung und Ermutigung unterstützen

Viele Kinder schöpfen aus gelungenen Arbeiten Selbstvertrauen, wir kennen jedoch auch Kinder, die sich selbst wenig zutrauen und immer wieder die Bestätigung der Erwachsenen brauchen. Nun wird Eltern und Lehrern in der Regel empfohlen, besonders die Entmutigten zu loben, sie für Gelungenes zu belohnen. Betrachtet man Lob und Belohnung näher, so muss man sagen, es ist eine fragwürdige Empfehlung. Montessori fordert nicht zu unrecht den Verzicht auf Lob und Tadel. Beim Verzicht auf Tadel tun wir uns weniger schwer als beim Verzicht auf Lob.

Beate Grabbe zeigt an einem Beispiel das Problem des Lobens sehr deutlich auf. Marco ist ein Kind, das oft Schwierigkeiten macht. Er stört immer wieder den Unterricht, hält sich oft nicht an die Regeln des Sich-Meldens und ruft dazwischen. Eine Studentin, die in der Klasse arbeitet, hat das schon öfter erlebt und beginnt mit Besorgnis den Unterricht. Zu ihrem Erstaunen gelingt es Marco aber gleich einmal, sich zu melden und abzuwarten, bis er aufgerufen wird. Die Studentin reagiert mit einem freudigen Lob. „Bravo Marco, das ist toll, dass du dich meldest! Siehst du, es geht doch!" Marco, der vorne sitzt, dreht sich grinsend zur Klasse um. Kurz darauf beginnt er wieder mit Störaktionen. (vgl. Grabbe 2001,S.40)

Wird ein Lob vor der Klasse und so ausdrücklich gegeben, hebt es das Kind aus der Gemeinschaft heraus. Die gut gemeinte Aktion hat eine isolierende Wirkung, es wird etwas hervorgehoben, was für viele andere selbstverständlich ist und lässt seine besondere Stellung sichtbar werden. Möglicherweise hätte es Marco geholfen und die Situation entschärft, wenn die Studentin ihn einfach drangenommen und seinen Beitrag aufgegriffen oder in irgendeiner Form zur Gesprächsführung genutzt hätte – vielleicht mit einem kurzen Lächeln oder Kopfnicken. So wäre der Bub nicht herausgehoben worden, sondern – eben durch die Einhaltung der Melderegel – integriert geblieben, hätte aber durch die Beachtung seines Wortbeitrags die ersehnte Beachtung seiner Person erhalten. Dadurch wäre eventuell die Energie sich selbst zu leiten aktiviert worden.

Beim Loben sind wir immer in Gefahr, nicht das Arbeitsergebnis, sondern das gelobte Kind zu beurteilen. Im Lob stellt sich der Lobende häufig über das Kind. Manche Kinder sind unersättlich im Heischen nach Lob und Belohnungen wie Sternchen und Klebebildchen. Sie beziehen ihren ganzen Selbstwert von anderen. Wer sein Selbstwertgefühl von anderen her bezieht, von dem, was die Anderen über ihn sagen und denken, ist dauernd in Gefahr. Das sind z. B. jene Kinder, die völlig geknickt sind, wenn sie einmal kein Sternchen bekommen oder vom Lehrer auf das Misslingen einer Arbeit hingewiesen werden.

Wer Schüler ermutigen will, sollte nicht in erster Linie den Schüler loben, sondern seine Arbeitsleistung anerkennen. Eine Schülerin kommt mit einem Heft, in dem es Wörter möglichst schön aufgeschrieben hat, zum Lehrer und zeigt ihm das Ergebnis. Er sieht sofort ein Wort, das mehrmals ausradiert wurde und nach wie vor nicht seinen Vorstellungen entspricht. Der Lehrer ist verleitet, sofort dieses noch nicht gelungene Wort hervorzuheben und zu einem nochmaligen Schreiben anzuregen. Er hält sich jedoch zurück und fragt das Kind, welche Wörter ihm gut gelungen sind. Das Kind zeigt auf einige Wörter, worauf der Lehrer antwortet: „Das finde ich auch, dass du diese Wörter sehr genau und regelmäßig geschrieben hast." „Aber dieses Wort", sagt die Schülerin, „ist mir nicht gelungen, da musste ich dreimal radieren. Ich glaube, das schreib ich noch einmal." „Ja, ich denke, wenn du das Wort in einer neuen Zeile nochmals schreibst, gelingt es dir besser."

Dem Kind wird gesagt, was anerkennenswürdig ist. Ob es diese Anerkennung im Sinne einer Ermutigung nutzt, bleibt letztlich ihm überlassen, was in den meisten Fällen dazu führt, dass die Ermutigung nicht als Fremdbestimmung erlebt und infolgedessen auch bei skeptischen Schülern angenommen wird.

Lob und Tadel kommen meistens aus einem impulsiven Gefühl. Dazu meint Montessori: „Dem Kind helfen wir nicht durch das Befolgen eines impulsiven Gefühls. sondern die wahre Hilfe entspringt einer disziplinierten Liebe, die mit Verstand angewandt wird." (Montessori 1989, S. 253) Anerkennung ist mit Verstand angewandte Liebe (was nicht Emotionslosigkeit bedeutet!), weil sie sich am Wohl des anderen orientiert.

Meister seiner selbst sein bedeutet in diesem Zusammenhang, unabhängiger vom Lob und Wohlwollen anderer geworden zu sein.

3. Über die Selbsttätigkeit zu Selbständigkeit und Kompetenz

Schule hat den Auftrag, die jungen Menschen auf dem Weg zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit bzw. auf dem Weg der Bildung zu führen und zu unterstützen. Dafür sind Selbsttätigkeit, eigenes Handeln und Erkennen unverzichtbar. Schon Pestalozzi postulierte die Notwendigkeit der Selbsttätigkeit mit dem Satz: „Es ist uns bis zur Unwidersprechlichkeit klar geworden, wie viel wahrhafter der Mensch durch das, was er tut, als durch das, was er hört, gebildet wird." (Pestalozzi zit. n. Wilkner 1987, S. 4)

Entwicklung unterstützen bedeutet demnach, den Antrieben und Kräften Raum geben, die, wie Holtstiege meint, „den Menschen bei der Konstruktion seiner selbst leiten" (Holtstiege 1994, S. 23) Das Kind ist Baumeister seiner selbst, und Entwicklung ist demnach Selbstenthüllung bzw. Selbstaufbau „auf dem Wege von Aktivitäten, in denen der ganze Mensch zusammenklingt." (Ebd., S. 22).

3.1 Freiarbeit als Chance zum selbständigen Bildungserwerb

In vielen Klassen werden Kindern heute in offenen Lernsituationen, im Projektunterricht oder in Situationen entdeckenden Lernens Möglichkeiten eines selbständiges und selbstverantwortetes Lernen eröffnet.

Montessori sieht in der Freiarbeit jene unterrichtliche Organisationsform, die selbständiges Tun ermöglicht und fördert. Die Freiarbeit ist das Kernstück der Arbeit im Montessori-Kinderhaus und in der Montessori-Klasse.

Daneben gibt es in einer Montessori-Klasse natürlich auch Formen gemeinsamen Lernens, in denen gemeinsame Sinndeutungen, geteilte Sinnorientierungen im Vordergrund stehen. Dazu gehört etwa das Sachgespräch an Rahmen der Kosmischen Erziehung, in dem die gemeinsame Verständigung über bedeutende Inhalte zur Aufgabe gemacht wird. In solchen Gesprächen wird in der Gruppe, jeder mit seinen Möglichkeiten, in eine Sache eingedrungen und Sachkenntnis erarbeitet. Dabei ist darauf zu achten, dass jede/r die Rede des anderen mitzuvollziehen bemüht ist, Perspektivenübernahme und ernsthaftes Argumentieren gelernt und das Miteinander vertieft wird.

In der Freiarbeit steht das selbsttätige und möglichst selbständige Arbeiten der vorbereiteten Umgebung, im vorbereiteten Lebens- und Erfahrungsraum Schule, im Vordergrund. Selbstgesteuertes Lernen erfordert Räume, die klar strukturiert und geordnet sind, denn freies Arbeiten lässt sich nicht in einer „Rumpelkammer" realisieren. Der Schulraum hat, wie Peter Petersen formuliert, „seelenformende Kraft wie der Raum im großen" (Petersen 1963, S. 6 1).

Für die freie Arbeit ist eine Lernumgebung, die Aufforderungscharakter hat, notwendig, d. h. es müssen Materialien und Aufgaben vorhanden sein, die so aufbereitet sind, dass das Kind damit selbständig arbeiten kann. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass Kinder immer allein arbeiten, im Gegenteil, Montessori hält das Lernen in der Gemeinschaft für sehr wichtig. Ich-Identität und Wir-Identität müssen sich gleichermaßen entwickeln können. Die Entwicklung des sozialen Sinns erwartet sich Montessori vom allem durch das Zusammenleben von Kindern unterschiedlichen Alters. Sie ist der Überzeugung, dass man den Kindern die „soziale Nahrung" nimmt, wenn man sie nach Jahrgängen trennt. (Vgl. Montessori 1989, S. 202f). Rücksichtnahme, helfen und sich helfen lassen, dies sind Haltungen, die sich in einer jahrgangsgemischten Klasse auf natürliche Weise entwickeln können.

Das selbständige Arbeiten umfasst in der Regel die Entscheidung für eine Aufgabe, das Bestimmen bzw. Mitbestimmen von Zielen, das Einteilen von Zeit, die Nutzung geeigneter Lernwege, Methoden, das Planen der Vorgangsweise und die Überprüfung der Ergebnisse. Hugo Gaudig fordert zur Zeit Montessoris ebenfalls vehement die Realisierung des Prinzips der Selbsttätigkeit, und er versteht darunter ein Tun aus eigenem Antrieb, mit eigenen Kräften, auf selbst gewählten Bahnen, zu frei gewählten Zielen. (Vgl. Gaudig 1963, S. 30f)

Kinder müssen Möglichkeiten haben, in ihrem Wollen und der Fähigkeit zu selbstverantwortetem Lernen und Handeln gestärkt zu werden. Die spontane, zielgerichtete Aktivität ist für Montessori Grundvoraussetzung, dass das Kind Meister seiner selbst werden kann, denn Freiheit und Unabhängigkeit konkretisieren sich über aktives Tun. Durch die Entscheidung für die Arbeit macht das Kind die Aufgabe zur eigenen. Auch in anderen Unterrichtsformen versuchen wir, dem Kind die Sache auf eine Weise nahe zu bringen, dass es sie zur eigenen machen kann. Freiarbeit hat den Vorteil, dass Kinder weitgehend aus eigenem Interesse, aus dem Neugierverhalten heraus und in eigenem Tempo an eine Sache gehen können. Dadurch wird die Beziehung zum Inhalt erleichtert.

Montessori misst der Freiheit im Erziehungs- und Bildungsprozess größte Bedeutung zu, sie unterscheidet Freiheit aber deutlich von Beliebigkeit. Selbsttätigkeit ist nicht action and fun, Geschäftigkeit, sondern ein auf Sinn ausgerichtetes Tun. Der Sinn-Bezug ist wesentliches Kriterium für die Selbsttätigkeit und Selbständigkeit. Und diesen Sinnbezug stellt auch in Montessori-Einrichtungen in vielen Lernsituationen die Lehrperson her.

Unter Freiarbeit ist keineswegs zu verstehen, dass Kinder sich alles selbst erarbeiten müssen. Kinder werden in der Montessori-Klasse nicht, wie manche bei einem schnellen und oberflächlichen Blick in Montessori-Einrichtungen meinen, dem Material überlassen, sondern durch sorgfältige Einführungen in die inhaltliche Struktur einer Sache und das methodische Vorgehen lernt es Wege kennen, Inhalte zu erschließen und Einsichten zu gewinnen. Die Lehrerin / der Lehrer beobachtet das Kind bei seinem Vorgehen und gibt, wenn nötig, Hilfestellung, d. h. sie/er wird manche Kinder immer wieder beim zielgerichteten Lernen und Arbeiten anleiten und unterstützen müssen. In der Montessori-Klasse finden wahrscheinlich mehr Situationen angeleiteten Lernens statt, als selbst Montessori-Lehrer/innen wahrhaben wollen.

Im Zusammenhang mit dem Anspruch zielgerichteter Arbeit muss betont werden, dass die Materialien, die den Kindern zur Verfügung stehen, keine Lernspiele sind; es handelt sich um didaktisch aufbereitete Lernmaterialien, oder, wie Montessori sie nennt, Entwicklungsmaterialien für die Hand des Kindes. Manchmal hört man Lehrer/innen sagen: „Ich gebe Kindern Lernspiele, dann merken sie nicht, dass sie lernen." Kinder dürfen, ja müssen merken, dass sie lernen und auf welchen Wegen sie erfolgreich lernen können.

3.2 Eigenständiges Lernen durch metakognitive Verfahren unterstützen

Guldimann und Zutavem beschreiben Instrumente bzw. Verfahren, die den Schülerinnen und Schülern helfen, über ihr Lernen nachzudenken, sich Lernwege und Lernerfahrungen bewusst zu machen und ihre eigenen Arbeitsstrategien zu entwickeln. Der Einbezug dieser Verfahren kann die Qualität freier Arbeit erhöhen. Eine Möglichkeit stellen Einträge im Arbeitsheft (das kann am Rand des verwendeten Heftes/Blattes sein oder auch vor oder nach einer Aufgabe) dar. Ein Kind, das sich eine größere Arbeit über Wölfe vornimmt, schreibt z. B. in sein Arbeitsheft: „Ich möchte mit der Wolfzeichnung anfangen. Ich habe im Büchlein gelesen. Mir geht es einfacher, wenn ich mit der Zeichnung anfange." (Guldimann/Zutavern 1992, S. 5, vgl. dazu auch Beck, Guldimann, Zutavern (Hg.) 1996)

Stefan verfügt über ein Wissen, wie er sein Lernen angesichts dieses Themas am besten angeht. Er begründet sein Vorhaben, indem er auf seine Lernerfahrungen zurück greift.

Die Erstklässlerin Juliana bemerkt, dass ihr das Lösen einer bestimmten Rechenaufgabe Schwierigkeiten bereitet. Das setzt voraus, dass sie sich beim Aufgaben lösen beobachtet. Sie schreibt an den Rand ihres Rechenheftes die folgende Notiz für ihre Lehrerin: „gans schwirik Reknung" (ebd., S. 5). So erwirbt Juliana ein Wissen über sich als Lernerin in bestimmten Aufgabensituationen.

Ein weiteres Verfahren stellen Lernhefte dar, in denen eine Arbeitsrückschau stattfindet. Dabei wird das eigene Arbeiten von jedem Einzelnen beobachtet. Erfahrungen, Probleme und Fragen werden in einem Arbeitsheft festgehalten. Die Einträge ins Arbeitsheft führen zu einer fortlaufenden Dokumentation der Arbeits- und Lernerfahrungen. Ein Schüler schreibt: „Beim Klammerauflösen und Klammerberechnen von +/- Rechnungen hatte ich gar keine Mühe in der Schule und zu Hause. Aber bei der Prüfung hab’ ich total versagt. Ich weiß nicht warum!!" (Beck/Guldimann/Zutavem 1994, S. 9)

Solche Einträge sind wertvolle Hilfen für Beratungsgespräche und zur Reflexion der Qualität eigenen Arbeitens. Bestimmte Leitfragen können Anfangs die Arbeitsrückschau erleichtern:

  • Was gelang mir leicht?

  • Wo hatte ich Schwierigkeiten?

  • Wie habe ich die Schwierigkeiten bewältigt?

  • Welche Fehler habe ich gemacht?

  • Wo habe ich Fortschritte gemacht?

  • Wie kann ich mich in Zukunft verbessern?

Ergebnisse aus den Arbeits- und Lernheften können aber auch von Zeit zu Zeit im Rahmen einer Klassenkonferenz diskutiert werden. Dabei werden die Arbeits- und Lernerfahrungen ausgetauscht.

3.3 Durch absichtsvolles Wiederholen und Üben Könnenserfahrungen ermöglichen

Zum Aufbau von Leistungsvertrauen und Leistungsbereitschaft braucht das Kind die Erfahrung: Ich kann etwas und ich kann es gut. Das Erfahren eines Könnens, das sich durch Übung einstellt, ist ein entscheidender Baustein im Rahmen der Leistungserziehung. (Vgl. Wedel-Wolff 1997, S. 5) In der Freiarbeit hat der Schüler die Möglichkeit, eine Sache so oft zu wiederholen, wie es seinem Bedürfnis entspricht bzw. notwendig ist. Dieses absichtsvolle Wiederholen und Üben schafft Könnenserfahrungen. Das Erlebnis gelungener und zu Ende geführter Aktivitäten motiviert, baut eine positive Erwartungshaltung auf und spornt an.

Leistungsbereitschaft, also etwas leisten wollen, basiert auf der Erfahrung eines Könnens.

Dabeibleiben, Verweilen, in eigenem Rhythmus arbeiten, das sind Grundvoraussetzungen für bildendes Lernen. Geschwindigkeit und Hast verhindern Können und Einwurzelung. Leider „fahren" wird im Unterricht zu oft im Stundentakt durch Lehrgänge. Aussagen wie: „Wer ist schon fertig? Beeilt euch! Es läutet bald die Pausenglocke. Es ist furchtbar, wie langsam heute wieder einige sind!" klingen uns Lehrerinnen und Lehrern und erst recht nicht Schülerinnen und Schülern fremd in den Ohren.

Wagenschein beklagt zurecht: „Die Stoffjagd und der Massenbetrieb verführen zu Kurzstunden, die nicht ausreichen um das echte, tiefgehende Nachdenken nur anfangen zu lassen." (Wagenschein 1970, S. 294) Die Hast ist eine Schulkrankheit, die Ungründlichkeit und beziehungslose Vielwisserei erzeugt und bei Schülern und Schülerinnen nicht selten Gleichgültigkeit oder Widerstand hervorruft. Wenn Begonnenes wegen des dauernden Zeitdrucks nicht zu Ende gebracht werden kann, kostet das viel Kraft und dürfte auf Dauer nicht weniger an die Substanz gehen wie die gewaltsame Unterbrechung des Schlafs.

Wenn wir wollen, dass Kinder wirklich in unserer Kultur heimisch werden, d. h. die Welt der Mathematik, der Sprache, der Musik usw. in der ihnen angemessenen Weise verstehen, müssen wir Abschied nehmen von einem Unterricht im Stundentakt und Gleichschritt.

4. Konzentriertes Tun und „optimale Erfahrungen" ermöglichen

Das bloße Durchnehmen von Stoff in gebundenen Lernsituationen, aber auch das bloße Erledigen und Abhaken von Aufgaben in offenen Lernsituationen haben keine bildende Wirkung. Was anzustreben ist, ist die tiefe Bindung an einen Gegenstand, welche die ganze Person in diesen Konzentrationsvorgang einbezieht, also eine mit innerer Beteiligung erfolgende gründliche und intensive Begegnung mit dem ausgewählten Gegenstand.

Wenn es dem Kind gelingt, sich ganz in die Gesetzmäßigkeit der Sache zu vertiefen, mit hoher Konzentration und Aufmerksamkeit der Sache auf den Grund zu gehen und dann gestärkt aus diesem Prozess hervorzugehen vermag, kann man von bildendem Lernen sprechen. Montessori bezeichnet das bei vielen Kinder beobachtete Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit als „Schlüssel der ganzen Pädagogik". (Montessori 1992, S. 45) Sie entdeckte die erstaunliche Tatsache, dass Kinder sehr wohl fähig sind, ihre ganze Aufmerksamkeit einer Sache zuzuwenden, sich so in eine Sache zu vertiefen, dass sie die Umgebung kaum mehr wahrnehmen, bei einem etwa dreijährigen Mädchen in einem Kinderhaus in Rom. Das Mädchen wandte sich in freier Entscheidung den Einsatzzylindern zu. Montessori konnte beobachten, wie es aufmerksam die Zylinder aufgestufter Größe in die entsprechenden Vertiefungen der Blöcke steckte, sie wieder herausnahm, vermischte und den Vorgang sofort von neuem begann. Die Kleine wiederholte die Tätigkeit immer wieder, sie schien völlig versunken zu sein und nichts von dem zu bemerken, was um sie herum vorging. Sie war so gesammelt, dass sie trotz Störversuchen die Tätigkeit vierundvierzigmal wiederholte. (Vgl. Montessori 1980, S. 165f)

Es war für Montessori wie eine Offenbarung, diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu sehen, das Aufgehen des Kindes in einer frei gewählten Arbeit zu beobachten. Was Montessori als Polarisation der Aufmerksamkeit bezeichnet, beschreibt Csikszentmihalyi, Psychologieprofessor an der Universität Chicago, als „optimale Erfahrung" (Csikszentmihalyi 1999, S. 15). Er erforscht seit vielen Jahren bei Erwachsenen in Beruf und Freizeit dieses Phänomen und meint, dass es sich bei optimalen Erfahrungen um Situationen handelt, in denen der ganze Mensch zusammenklingt. (Vgl. ebd., S. 5)

Csikszentmihalyi berichtet z. B. von einer Tänzerin, die beschreibt, wie sie sich fühlt wenn ihre Vorstellung gut läuft: „Deine Konzentration ist vollständig. Deine Gedanken wandern nicht herum. Du denkst an nichts Anderes: Du bist total in deinem Tun absorbiert." (Ebd., S. 80)

Eine Mutter, die oft und gerne mit ihrer Tochter liest sagt: „Lesen gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, und wir lesen oft zusammen. Sie liest mir vor und ich lese ihr vor, und dann verliere ich den Kontakt mit dem Rest der Welt. Ich bin völlig in das vertieft, was ich tue." (Ebd., S. 80)

Für Csikszentmihalyi ist diese optimale Erfahrung „der Prozess völligen Einsseins mit dem Leben" (ebd., S. 11). Wenn Menschen eine Tätigkeit, und mag sie noch so einfach sein, mit Aufmerksamkeit und innerer Anteilnahme verrichten, spüren sie dabei, wie Montessori meint, „so etwas wie eine Enthüllung ihres wahren Selbst. Sie fühlen gleichsam ein neues Leben in sich entstehen." (Montessori zit. n. Holtstiege 1994, S. 21)

Beim oben erwähnten Mädchen, das sich mit völliger Hingabe der Arbeit mit den Einsatzzylindern zuwandte, konnte Montessori erstmals die erstaunlichen Wirkungen der Polarisation der Aufmerksamkeit beobachten und beschreibt die Wirkungen von konzentrierten Tätigkeiten wie folgt: „Jedes Mal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit zustande kam, fing das Kind an, sich vollständig zu verändern, ruhiger, man könnte fast sagen, intelligenter und mitteilsamer zu werden; es zeigte außergewöhnliche innere Eigenschaften... Es war, wie wenn in einer gesättigten Lösung sich ein Kristallisationspunkt bildet, um den sich dann die ganze chaotische Masse zu einem Kristall von wunderschönen Formen vereinigt." (Montessori 1926, S. 214)

Die Veränderungen sind das Resultat der Erfahrung einer gelungenen Einheit von Denken und Wollen im praktischen Tun und „schlagen sich im Kinde bewusstseinserweiternd auf dem Wege der Intensivierung des Gefühls nieder, das die Erfahrung von sich als einer lebendigen Einheit bewirkt" (Holtstiege 1994, S. 21). Die konzentrierte Vertiefung in eine Sache hat bildende Wirkung, denn sie führt zum „Erwerb einer klaren und geordneten Erkenntnis der Dinge und ihrer Beziehungen untereinander" (ebd., S. 187). Csikszentmihalyi beschreibt die Wirkung optimaler Erfahrungen ähnlich: „Das Selbst ist komplexer als vorher, man fühlt sich fähiger, geordnet." (Csikszentmihalyi 1999, S, 63f)

Der Weg zu konzentriertem Tut und optimalen Erfahrungen ist in MontessoriEinrichtungen mit manchen Kindern ebenso mühsam wie in anderen Schulen. Es gibt Kinder, die zerstreut, innerlich zerrissen sind und sich selten bzw. nur kurz an eine Arbeit binden können. Sie stören andere bei der Arbeit, verweigern die Arbeit und verletzen Regeln. Montessori berichtet von Kindern, die es wie ein Segelboot ohne Steuer im Meer von einer Welle zur anderen treibt. Sie brauchen Orientierung, Strukturvorgaben und eine Lehrerin, die ihnen etwas zutraut und zumutet und immer wieder versucht, sie mit Aufgaben, d. h. mit bedeutenden Inhalten in Verbindung zu bringen.

Die Montessori-Pädagogik ist keine Zauberformel zur Erreichung von Selbständigkeit und Kompetenz, aber ein möglicher und bewährter Weg.

Die Montessori-Initiative Schwäbisch Hall geht diesen Weg seit zehn Jahren beharrlich und erfolgreich. Und wenn der Leiter des Staatlichen Schulamtes von einem „wichtigen und beispielhaften Edelstein im Spektrum der Schulen" spricht und der Oberbürgermeister die Montessori-Einrichtungen in Schwäbisch Hall als „bedeutende Bausteine der örtlichen Familienpolitik" bezeichnet, sehe ich darin eine hohe Wertschätzung, über die ich mich mit euch freue. Ich wünsche und hoffe, dass euch und uns allen, die wir uns auf dem manchmal steinigen Weg der Pädagogik befinden, die Beharrlichkeit und Zuversicht erhalten bleibt.

Literatur

Althof, W. (Hg.): Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Leske und Budrich, Opladen 1999

Beck, E./Guildimann, T./ Zutavem, M. (Hg.): Eigenständig lernen. UVK, Fachverlag für Wissenschaft und Studium. St. Gallen 1995

Beck, E./Guldimann, T./Zutavem, M.: Eigenständiges Lernen verstehen und fördern. (Bericht 12) Forschungsstelle + Pädagogische Hochschule St. Gallen. 

Csikszentmihalyi, M.: Flow. Das Geheimnis des Glücks. Klett-Cotta, Stuttgart 1999

Faust-Siehl, G./Garlichs, A./Ramseger, J./ Schwarz, H./Wann, U.: Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996

Gaudig, H.: Die Schule der Selbsttätigkeit. (hg. v. Müller, L.) Klinkhardt, Bad Heilbrunn/Obb. 1963

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Zum Autor: Prof. Mag. Dr. Franz Hammerer, geb. 1956, Pädagogische Akademie der Erzdiözese Wien, 1210 Wien, Mayerweckstraße 1.
Beruflicher Werdegang: 1978 bis 1984 Volksschullehrer in Vorarlberg, von 1984 bis 1994 Übungsvolksschullehrer, seit 1995 Professor für Grundschuldidaktik, Unterrichtswissenschaft und Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Akademie der Erzdiözese Wien. Mitglied der Dozentenkonferenz des Österreichischen Bundesverbandes für Montessori-Pädagogik und der deutschen Montessori-Vereinigung e. V. Sitz Aachen; Autor und Mitautor von Büchern zur Grundschulpädagogik und Montessori-Pädagogik, Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien.

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